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Leben braucht Rhythmus

Editorial

Erlebnis in Israel: Überraschend akzeptiert die Pilgerunterkunft keine Karten, sondern verlangt Barzahlung. Nun gut, es gibt ja Bankautomaten. Aber der Automat ist defekt und verschlingt die Kreditkarte. Und das am Freitagnachmittag, der Schabbat steht kurz bevor. Es gibt keine Chance, auch die Hotline funktioniert nicht. Erst am Sonntagmorgen arbeitet wieder jemand in der Bank und löst das Problem.

Israel ist ein säkulares Land, ähnlich wie Deutschland. Religion spielt für die meisten keine große Rolle in ihrem Alltag. Aber der Schabbat funktioniert. Er gibt der Woche einen unverrückbaren Rhythmus. „Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig!“ (Ex 20, 8) Das dritte Gebot des Dekalogs hat bis heute weitreichende soziale Wirkung. Sogar in China ist der Sonntag ein arbeitsfreier Tag für die meisten Einwohner. Ein Ruhetag pro Woche gibt dem Strom der Zeit einen Rhythmus, den viele nicht missen möchten, unabhängig von Religion und Glaube.

Im Christentum wurde der Sabbat durch den Sonntag abgelöst. Er ist in Deutschland als „Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ (Grundgesetz, Artikel 140) gesetzlich geschützt. Aber Sonntagsarbeit wird immer häufiger. In Österreich gibt es die „Allianz für den freien Sonntag“, in der Schweiz die ökumenische „Sonntagsallianz“. Es scheint, dass zeitgleich mit der Aushöhlung der Sonntagsruhe das Bewusstsein für ihren Wert steigt.

Der Wochenrhythmus ist nur ein Beispiel dafür, wie wichtig es ist, dem Leben Rhythmus zu geben. In diesem Heft wird das Thema vielfältig bearbeitet. Die Artikel decken eine große Bandbreite ab: den Rhythmus des Ein- und Ausatmens, den Schrittrhythmus des Tanzens, den langsamen Rhythmus des Alters, den durch Corona ver-rückten Rhythmus des Familienlebens, den Lebens- und Gebetsrhythmus des Klosters, den sich verändernden Rhythmus des Kirchenjahres und vieles mehr.

Jemand mag fragen, warum eine Zeitschrift für Theologie, Pastoral und Spiritualität sich mit Rhythmus befasst. Die Antwort gibt die Covid-Pandemie. Sie hat alle Lebensbereiche beeinflusst und ist in ihren Auswirkungen kaum zu unterschätzen. Im totalen Lockdown drohte alle Lebensenergie zu verschwinden wie in einem schwarzen Loch. Wozu morgens aufstehen? Was tun den ganzen Tag? Es konnte positiv gestimmt bleiben, wem es gelang, einen Rhythmus in den Tag zu bekommen.

Das zyklische „Hin und Her“ und „Auf und Ab“ genügt aber nicht. Der Mensch ist seinem Wesen nach dazu geschaffen, über das rein Weltliche hinaus zu denken und zu streben. Er braucht Sinn. Da macht Religion ein Angebot: Sie weist über den „puren Zufall“ hinaus. Sie beschränkt sich nicht auf „Zyklen, die sich sinnlos wiederholen“ (Papst Franziskus, in: Te Deum, Mai 2022, S. 44).

Judentum und Christentum setzen der Zeit Grenzen. Die Bibel behauptet einen Anfang und ein Ende. Sie beschreibt einen unendlich großen Rhythmus des Woher und Wohin. Sie spricht von Gott als Schöpfer und Vollender, der seinen ganz eigenen Rhythmus des radikalen Schenkens und Empfangens in die Schöpfung eingeschrieben hat. Der menschgewordene Gottessohn Jesus Christus steht genau dafür: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen … Die Worte, die ich zu euch sage, habe ich nicht aus mir selbst. Der Vater, der in mir bleibt, vollbringt seine Werke“ (Joh 14,9f).

So vollendet Jesus durch die Offenbarung des innergöttlichen Spiels der sich schenkenden und sich empfangenden Liebe den Sinn des durch den Sabbat markierten Wochenrhythmus der Arbeit und der Ruhe. „Der Sabbat ist für den Menschen da“ (Mk 2,27), denn der Mensch ist darauf angewiesen, es Gott gleich zu tun und im Rhythmus von aktiv und passiv, geben und nehmen, schenken und empfangen zu leben.

Es ist der Rhythmus der Perichorese, des tänzerischen Ineinanders der Personen, wie es z. B. der Theologe Gisbert Greshake in seinem Buch Der dreieine Gott beschrieben hat.

Möge dieses Heft der Leserin und dem Leser Anregungen geben, sich in den himmlischen Rhythmus einzuschwingen und somit einen Vorgeschmack des „Lebens in Fülle“ (Joh 10,10) zu bekommen.

Matthias Hembrock

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