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Was trägt durch die Nacht?

 

Editorial
Matthias Hembrock

„Was trägt durch die Nacht?“

Eigentlich ist die Nacht nicht mehr als diejenigen Stunden des Tages, während derer man sich auf der von der Sonne abgewandten Seite der Erde befindet. Mit Sicherheit kommt der nächste Tag, denn die Erde dreht sich immer weiter. Man muss nichts tun, damit es Tag wird, nur warten. Aber für viele ist es schwer, die Nacht zu bestehen. Ohne Sonne wird der Mensch oft unruhig und ängstigt sich. Er braucht Licht und fühlt sich im Dunkeln unsicher, haltlos und ohnmächtig. Nacht und Finsternis werden deshalb im übertragenen Sinn als Bezeichnung für solche Situationen gebraucht, die krisenhaft und bedrohlich sind, aus denen man keinen Ausweg sieht und die das Leben schwer oder gar unerträglich machen.

Daher kommt die Frage, die diesem prisma-Heft den Titel gibt: „Was trägt durch die Nacht?“ Sie wird vornehmlich in spiritueller Hinsicht gestellt. Viele Glaubende befinden sich in einer Phase, die eher von Dunkelheit geprägt ist. Das ist in Kirchengemeinden der Fall, aber auch in der Fokolar-Bewegung. Der ursprüngliche Schwung, die anfängliche Begeisterung sind längst vorbei und bange Fragen drängen sich vor: War das alles richtig? Habe ich vielleicht umsonst gelebt und geglaubt? Gehen Glaube und Kirche bald zu Ende? Eine gewisse Melancholie hat sich breit gemacht, wie Nebel, der sich in unseren Breitengraden über die Kirchen- und Glaubenslandschaft gelegt hat.

In solcher Zeit richtet sich der Blick zunächst auf die Bibel. Im alttestamentlichen Buch Jesaja wird der (Nacht)Wächter doppelt gefragt: „Wie lange noch – die Nacht?“ Franz Sedlmeier führt aus, dass der Wächter eine prophetische Doppelaufgabe hat: Er muss das Wissen um Gott entflammen und zugleich die Not der Nacht aushalten.

Tonja Deister beschreibt den Glauben als Weg durch die Nacht und findet in großen Gestalten christlicher Spiritualität Zeuginnen und Zeugen dafür: Johannes vom Kreuz, Chiara Lubich, Sören Kierkegaard, Nelly Sachs und Franz Jalics. Als Hilfe auf dem Weg durch die Nacht stellt Tonja Deister Grundzüge der Kontemplation vor. Wilfried Hagemann spürt dem Lebenszeugnis von Jochen Klepper nach, Autor des adventlichen Liedes „Die Nacht ist vorgedrungen“. Auch Dietrich Bonhoeffers bekanntes Gedicht/Lied „Von guten Mächten“ ist ein Ausdruck der Geborgenheit in Gott, welcher zum wirklichen Mensch Ja sagt, der eben oft Nachterfahrungen macht – so führt es Bernd Aretz aus.

Die Karmelitin Elija Boßler, die in der KZ-Gedenkstätte Dachau lebt, spricht im Interview darüber, wie Gebet und Stille ihr helfen, schwierige Situationen durchzutragen und Menschen im Dunkel zuzuhören. Wie Sterne im Dunkel leuchten für Meinolf Wacker manche Worte, seien es Bibelworte oder auch das Wort von Papst Johannes Paul II. beim Weltjugendtag 2000 in Rom an die Jugendlichen: „Ihr seid Wächter auf den Morgen.“ Für Meinolf Wacker war das der Antrieb für sein jugendpastorales Engagement in Sarajewo und in go4peace.

Überraschend mag für einige sein, was Gefängnisseelsorger Stefan Rosenbaum berichtet: dass sogar das Gefängnis ein heiliger Ort ist, weil Gott dort in Extremsituationen wirkt. Zwei bewegende Erzählungen der Begleitung von Kranken und Sterbenden ergänzen das: Annette Bühs war bis zum letzten Atemzug ganz nah bei einer Freundin und Wilfried Hagemann hielt die Gottesfinsternis einer Gottsucherin über Jahrzehnte mit ihr aus. Eine dritte sehr persönliche Nachterfahrung kommt im Artikel von Murad Mirza zur Sprache, der auf einem „Gut der Hoffnung“ (Fazenda) vom absoluten Tiefpunkt seines Lebens wieder zu Hoffnung und Dankbarkeit fand.

Möge dieses prisma-Heft vielen eine tragfähige Hilfe durch die Nacht des Lebens und des Glaubens sein, die wohl niemandem erspart bleibt. Uns ermutigt die Spiritualität der Einheit von Chiara Lubich. Diese verankert ihr Leben nicht in idyllischen Erfüllungsmomenten, sondern in der Nacht der Gottverlassenheit Jesu am Kreuz:

Ich möchte der Welt bezeugen,
dass Jesus der Verlassene
jede Leere ausgefüllt,
jede Finsternis erleuchtet,
jede Einsamkeit begleitet,
jeden Schmerz beseitigt
und jede Schuld getilgt hat.[1]

Leider müssen wir ab dem Jahr 2025 den Preis des Jahresabos für das prisma auf 22 € anheben, da die Produktionskosten immens gestiegen sind. Wir hoffen auf Ihr Verständnis!

 

[1] Chiara Lubich, Alle sollen eins sein, München-Zürich-Wien, 1995, S. 26