Zumutung Einheit
Liebe Leserin, lieber Leser,
„Zumutung Einheit“ lautet der Titel dieses prisma-Heftes. Ist es nicht tatsächlich eine Zumutung, heute von Einheit zu sprechen angesichts der atemberaubend schnell wachsenden Konflikte und Zerrissenheit in Politik, Gesellschaft und Kirchen? Und gelten die Freundinnen und Freunde der inheit nicht heute als unverbesserliche Optimisten oder Idealisten, die sich noch für das Ganze einsetzen wollen? Aber immer noch gibt es sie – diese Optimisten und Idealisten, nicht nur in der Redaktion des prisma, unter den Priestern in der Fokolar-Bewegung und in der Fokolar-Bewegung weltweit, die sich die Einheit auf die Fahne geschrieben haben. Sie gibt es überall unter uns, in der Gesellschaft, in den Kirchen, manchmal mit spektakulären Aktionen, oft unscheinbar im Verborgenen als Salz der Erde unter den Menschen wirkend. Wie ein kleines Senfkorn begann sich die kleine Gruppe um Chiara Lubich in Trient zu Beginn der 1940er-Jahre zu entwickeln. Gerade in der ausweglosen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs wuchs der Wunsch nach Einheit, einer Einheit, die im Evangelium des Johannes beschrieben wird: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.“ (Joh 17,21).
Stefan Ulz stellt in seinem Beitrag dar, wie begeistert Chiara Lubich die Erfahrung der Einheit im Jahr 1948 erlebt hat: „Die Einheit! Wer könnte wagen, etwas über sie auszusagen? Sie ist unaussprechlich wie Gott! Man spürt sie, man sieht sie, man erfreut sich an ihr [...] aber sie ist unaussprechlich! Aller erfreuen sich an ihr, wenn sie da ist und alle leiden, wenn sie fehlt. Sie ist Friede, Freude, Liebe, Glut, heroische Haltung, äußerste Großzügigkeit. Sie ist Jesus unter uns!“
Diese Einheit ist in erster Linie ein Geschenk Gottes. Sie ist eine von „Christus gewährte Gabe, Geschenk des Einsseins in ihm, Teilhabe am innergöttlichen Lebensrhythmus“, wie Gérard Rossé in seiner Meditation unterstreicht. Klaus Hemmerle bezeichnet diese Teilhabe als dreifaltiges Sein, das sich in einer merkwürdigen Logik zeige: „Gott ist die Liebe; Liebe ist Sich-Geben; Sich-Geben heißt Verlieren und Nichts-Werden; Nichtsein aber ist Ausdruck der Liebe, die Gott ist.“ Gerade „im Nichts und im Verlieren“ wird Gott als „die Fülle“ erfahrbar, die wiederum „Sich-Geben und Sich-Verlieren ins Nichts“ ist.
In diesem Gedanken zeigt sich, dass das Sein relational zu verstehen ist, die Menschen dafür da sind, „füreinander Geschenk zu sein“. Der Kölner Professor für Altes Testament Tobias Häner stellt den nordamerikanischen Kulturwissenschaftler Charles Eisenstein vor, dem es genau darum geht, den in unseren Gesellschaften weit verbreiteten Begriff der „Separation“ mit dem des „Interbeing“ abzulösen. Wie das Sich-Geben zur Einheit führt, zu einem weiten Verständnis der Zusammengehörigkeit und der Solidarität zeigen die weiteren Beiträge des Heftes. So betont die Professorin Julia Knop im Blick auf die Ökumene, dass es in ihr „nicht um Exklusivität und Wettbewerb, welche die bessere, die richtige Kirche sei“ gehe, sondern vielmehr darum, „Menschen in den verschiedenen (Symbol-)Sprachen, Spiritualitäten und Traditionen des Christentums Worte, Orte und Gemeinschaften anzubieten, mit denen sie ihren Glauben biographisch gestalten und im Glauben wachsen können“. Drei Priester, die in Österreich und Deutschland in ihren Pfarreien tätig sind, berichten davon, wie sehr das gemeinsame Hören auf das Wort Gottes und das gelebte Evangelium die Grundlage für die Einheit und Verständigung unter den Gemeindemitgliedern ist. Marianne Reiser berichtet von dem Projekt care kultur seebach, an dem viele Vereine, Institutionen und Menschen aus Zürich-Seebach beteiligt sind. Auch ihre Pfarrei Maria Lourdes wirkt an dieser Arbeit mit, sich um die Menschen im Stadtteil zu kümmern und allem Leben Sorge zu tragen. Bischof Heinrich Timmerevers des Bistums Dresden-Meißen traf sich mit einer Gruppe queerer Menschen, die „die Kirche bisher überhaupt nicht im Blick“ gehabt habe. Bischof Timmerevers wünscht sich eine Herzerweiterung der Kirche, wie er im prisma-Interview sagt. „Es geht um die Haltung, wie wir Menschen begegnen, die nicht unseren Vorstellungen, Normen und Idealen entsprechen. Hier haben wir auf allen Ebenen in Kirche hohen Lernbedarf.“ Zu diesem Interview passt der Beitrag einer ehemaligen Fokolarin, in dem sie erzählt, wie sie zu ihrem Coming-out kam und wie das ihre Lebensperspektive und ihr Gottesbild verändert hat.
Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser,
wünsche ich mit diesem neuen prisma-Heft eine Herzerweiterung und viele neue Impulse für Sie persönlich.
Zum Ende des Editorials wünsche ich Ihnen vor allem gesegnete Weihnachten und schließe mit einem Gedanken von Klaus Hemmerle:
Jeder Mensch ist ein Fenster,
das herrliche, gewaltige Fenster einer Kathedrale.
Aber was ist solch ein Fenster ohne das Licht?
An Weihnachten ist das Licht aufgegangen.
An Weihnachten ist der geboren,
der mein Leben erleuchtet,
auch wenn ich darin nur Dunkel finde.
Ich will es hinhalten, dieses Leben,
in sein Licht –
und das Fenster wird in Farbe erglühen,
und viele werden Licht sehen.
Ihr
Bernd Aretz