
Von Christoph Brüwer auf katholisch.de - Erstveröffentlichung 04.08.2025
Als Priester gemeinsam unter einem Dach, so leben Wilfried Hagemann und Matthias Hembrock in Bocholt im Bistum Münster. "Vita communis" nennt sich dieses gemeinschaftliche Lebenskonzept, das schon eine lange Tradition hat und mehr ist als eine Zweckgemeinschaft. Wie Hagemann und Hembrock zueinander gefunden haben und wie sie auf den priesterlichen Pflichtzölibat blicken, erklären sie im katholisch.de-Interview.
Frage: Herr Hagemann, Sie waren neun Jahre lang Regens im Bistum Münster. Ist Einsamkeit aus Ihrer Sicht heute eine der größten Herausforderungen für den Priesterberuf?
Hagemann: Die größte Herausforderung liegt heute darin, junge Menschen dabei zu begleiten, dass sie im Einklang mit sich und mit der Kirche ihre Weise des Priesterseins entdecken. Ich stelle fest, dass junge Männer sich heute eher als Priester sehen, die sich von der Welt abgrenzen, statt sich ihr zuzuwenden. Das müsste in der Priesterausbildung viel mehr bearbeitet werden, genauso wie die Frage des Zölibats. Es braucht daher eine Spiritualität, die nicht nur das individuelle Beten und Meditieren fördert, sondern die auch andere Menschen mit ihrem Reichtum einbezieht. Wie sollte es sonst möglich sein, eine missionarische und synodale Kirche zu werden?
Frage: Wie sehen Sie das, Herr Hembrock?
Hembrock: Der Individualismus ist nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch bei Priestern heute sehr stark und wird oft in der Abgrenzung zu anderen verstanden. Man müsste da vielmehr eine Verbundenheit in Christus suchen, damit wir eben nicht einsam sind, obwohl wir individuell sind.
Frage: Früher waren Priester ja auch meist allein – abgesehen vielleicht von einer Pfarrhaushälterin. Warum ist das heute problematischer?
Hagemann: Die Einsamkeit in der Gesellschaft insgesamt hat zugenommen, genauso wie die Zahl der Singles. Das ist aber kein Ideal. Ich persönlich habe in meinem Leben gemerkt, dass mich mein Glaube drängt, mit anderen Kontakt aufzunehmen. Geistlich ausgedrückt würde ich sagen: Jesus ruft mich zur Communio.
Hembrock: Die Einsamkeit kommt aus meiner Sicht auch daher, dass Priester den Zölibat versprechen und ihm treu bleiben, aber keine andere Form der Gemeinschaft finden. Als ich gespürt habe, dass ich Priester werden soll, war mir klar, dass ich eine andere Form der Familie finden muss mit Priestern und auch Laien, mit denen ich im Glauben verbunden bin.
Frage: Eine Form der Gemeinschaft haben Sie beide seit 2018 in ihrer Wohngemeinschaft. Was war denn für Sie der Beweggrund, in diese Priestergemeinschaft zu ziehen, Herr Hagemann?
Hagemann: Ich bin Mitglied der Fokolar-Bewegung und war zuvor in Ottmaring bei Augsburg, wo es eine ökumenische Kommunität von über 100 Menschen gibt, die zum Teil mit Familien, zum Teil auch ehelos miteinander leben. Dort erreichte mich die Anfrage von Pfarrer Hembrock, ob ich mir vorstellen könnte, nach Bocholt zu ziehen. Er gehört, wie ich zur Fokolar-Bewegung. Das habe ich tatsächlich als einen Ruf erlebt. Wer seine Wurzeln im Himmel hat, kann überall hingehen – auch nach Bocholt, wo ich zuvor noch nie war.
Frage: Wie war das bei Ihnen, Herr Hembrock?
Hembrock: Für mich war es immer ein Wunsch, in einem Pfarrhaus mit anderen zusammenzuwohnen. Dieses Pfarrhaus hier von St. Georg wurde schon dementsprechend renoviert, bevor ich kam. Da haben die Pfarrei und das Bistum sehr gut vorgesorgt, sodass es separate Wohnungen gibt, man sich aber auch ganz leicht treffen kann. Ich hatte bei meinen Stellen vorher schon zweimal das Glück, in einer "vita communis" zu leben, sodass ich seit der Priesterweihe in Gemeinschaft leben durfte.
Frage: Wie sieht denn ein normaler Tag in Ihrer Priestergemeinschaft aus? Essen Sie zusammen? Beten Sie gemeinsam?
Hagemann: Wir kommen üblicherweise um 7.15 Uhr zusammen und beten die Laudes. Darin meditieren wir die Schrifttexte des Tages. Danach frühstücken wir gemeinsam und dann geht jeder seiner Arbeit nach. Zweimal die Woche kommt ein Priester aus der Pfarrei dazu. Das Mittagessen nehmen wir zusammen ein, manchmal kommen Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter, bzw. Gäste dazu. Anschließend übernimmt jeder wieder seine Aufgaben. Das Abendessen macht jeder für sich, aber gegen 21 Uhr treffen wir uns dann wieder. Dabei sprechen wir dann über unseren Tag, aber auch über Kirche, Theologie, Politik oder Fußball und beten die Komplet.
Frage: Wer mit einer Familie oder anderen Mitmenschen unter einem Dach lebt, der weiß, dass es auch mal Streit geben kann. Wie ist das bei Priestern? Streiten Sie auch manchmal miteinander?
Hagemann: Natürlich gibt es Meinungsverschiedenheiten. Wir gehen uns auch manchmal auf die Nerven. Aber darüber können wir reden. Zu unserer "vita communis" gehören auch weitere Priester, die nicht hier im Haus leben, sondern in anderen Städten. Mit ihnen treffen wir uns regelmäßig und besprechen, wie wir leben. Da ist dann auch der Raum, in dem man dem anderen etwas sagen kann.
Hembrock: Wichtig ist in unserem täglichen Zusammenleben auch, dass jeder die Bereitschaft hat, sich auf den anderen einzustellen, wenn es um Absprachen geht. Dafür braucht es auch eine innere Flexibilität. Als leitender Pfarrer der Pfarrei will ich nicht derjenige sein, der hier im Haus alles bestimmt.
Frage: Was war das letzte Thema, bei dem Sie eine Meinungsverschiedenheit hatten? Geht es da um die nicht eingeräumte Spülmaschine, oder wie muss ich mir das vorstellen?
Hembrock: Nein, das ist relativ unproblematisch (lacht). Es geht eher um den Umgang mit Menschen: Der eine ist sehr kommunikativ, der andere eher still. Manchmal kommt man sich da in die Quere, weil der eine mehr Besuch haben will und der andere lieber etwas mehr Ruhe hätte. Es sind eher solche Dinge.
Frage: Viele Priester beklagen heute zunehmend, dass sie in immer größeren Seelsorgeeinheiten zu Einzelkämpfern werden. Wie kann denn da so eine Art der Gemeinschaft funktionieren, wenn Priester allein für riesige Flächen zuständig sind?
Hagemann: Entweder kann es so gehen, dass ein Bischof bewusst mehrere Priester auf deren Wunsch hin an einen zentralen Ort versetzt. Ich kenne Priester, die sich regelmäßig jede Woche treffen, andere kommen täglich zu einer Mahlzeit oder Gebetszeit zusammen. Die Mühe lohnt sich, solche Möglichkeiten im Auge zu behalten – gerade im Gespräch zwischen Bischöfen und ihren Priestern.
Hembrock: Natürlich sind die großen Flächengemeinden objektiv schwierig. Aber da sehe ich auch eine Verantwortung bei den Bischöfen ihren Priestern gegenüber. Sie müssen meiner Meinung nach für gute Rahmenbedingungen sorgen, dass jemand eben nicht vereinsamt. Selbstverständlich sind zuerst die Priester selbst in der Verantwortung für eine gute Beziehungskultur untereinander. Im Zeitalter der Kommunikationsmittel gibt es dafür viele Möglichkeiten.
Frage: Gelten solche Gemeinschaftskonzepte nur für Priester?
Hembrock: Nein, natürlich können beispielsweise auch Pastoralreferentinnen und -referenten und andere, die in der Pastoral tätig sind oder in der Kirche leben, Teil einer solchen Gemeinschaft sein – ob verheiratetet oder nicht. Wichtig bei einer "vita communis" ist, dass es ein geistlicher Ort ist und es ein geistliches Band gibt, dass alle miteinander verbindet. Die Gemeinschaft unter Priestern hat aber den Vorteil, dass man mehr auf Augenhöhe ist, weil man bestimmte Erfahrungen teilt. Das hat schon spezifische Eigenheiten.
Frage: Sie haben den Zölibat bereits angesprochen. Man könnte argumentieren, dass sich das Problem einsamer Priester mehr oder weniger aufheben würde, wenn man den priesterlichen Pflichtzölibat aufgibt …
Hembrock: Für mich ist der Zölibat eine Berufung und kein Gesetz, das mir nur auferlegt wurde, um Priester werden zu können. Dann hätte ich das nicht machen können. Ich habe gespürt: Gott will das von mir. Wenn Priester heiraten könnten, hätten sie unter Umständen eine gute Gemeinschaft in der Familie und müssten nicht einsam sein. Wobei ich von manchen Eheleuten weiß, dass sie sich auch in der Ehe einsam fühlen. Da, wo Einsamkeit ein Problem ist, lässt sich das also nicht einfach durch die Aufhebung der Zölibatspflicht lösen.
Frage: Sie sind bald 87 Jahre alt, Herr Hagemann. Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht, wann für Sie der Punkt gekommen ist, aus der Priestergemeinschaft auszuziehen?
Hagemann: Ja, durchaus. Ich habe ein Testament geschrieben und Pfarrer Hembrock den Auftrag gegeben, mir mitzuteilen, wenn es nicht mehr geht und es besser wäre, wenn ich in ein Heim ginge. Ich möchte so leben, wie alle anderen auch und den anderen nicht zur Last fallen.
Hembrock: Wir haben schon einige Vorkehrungen getroffen und beispielsweise bereits einen Treppenlift installiert. Wir können auch ein Pflegebett aufstellen oder einen Pflegedienst organisieren. Im Grunde wie bei anderen Seniorinnen und Senioren auch: Man macht das möglich, was geht. Und wenn es nicht mehr geht, müssen wir uns um andere Lösungen kümmern.